Nr. 34
London im Kopf
Es war einer dieser sehr britischen Morgen in London: grauer Himmel, nasser Gehweg, Busse im Stau, und unten auf der Straße ein Müllwagen, der so tut, als sei er der wahre Herrscher der Stadt. 🚛
Während halb London darüber nachdenkt, ob die Müllabfuhr pünktlich kommt, beschäftigt mich, SherlockMS, selbsternannter Chefinspektor für Hirnangelegenheiten, eine elegantere Frage:
Wer holt eigentlich den Müll im Gehirn ab? 🧠🚮
Genau darum geht es in einem aktuellen Review in Neuron mit dem treffenden Titel „Resolving the mysteries of brain clearance and immune surveillance“, ein Werk, das im Grunde zeigt, dass unser Gehirn heimlich über Kanalisation, Straßenreinigung und Zoll verfügt. Und ja: Die Neurologie hat das erstaunlich lange übersehen.
🏙️ Das Gehirn als Stadt
Stell dir dein Gehirn wie eine Großstadt vor:
- Neuronen = Wohnungen, Büros, Pubs
- Gliazellen = Hausmeister, Elektriker, Putzkräfte
- Blutgefäße = Straßen, Brücken, Ringautobahnen
- Liquor (Gehirnflüssigkeit) = Mischung aus Wasserleitung, Straßenreinigung und Abfallsystem
Lange Zeit erzählte man, das Gehirn sei „besonders“: kaum Lymphgefäße, wenig Immunsystem, alles hermetisch abgeriegelt, quasi ein elitäres Gated Community. Klingt schick, ist aber ungefähr so plausibel wie ein London ohne Kanalisation.
In Wahrheit läuft Folgendes ab:
-
Zufluss 🚰
Frischer Liquor strömt entlang der Arterien von außen in das Gehirn hinein in schmalen Tunneln rund um die Gefäße. Das sind die periarteriellen Räume. Wie Wasser, das durch Seitenstraßen tief in ein Wohnviertel gespült wird. -
Durchfluss 🧽
Im Gewebe verteilt sich diese Flüssigkeit zwischen den Zellen, sammelt Abfall auf: Eiweißreste, Stoffwechselprodukte, kleine toxische Moleküle. Denk an eine Kombination aus Putzkolonne, Wischmopp und Staubsauger-Roboter. -
Abfluss 🚿
Die „gebrauchte“ Flüssigkeit verlässt das Gehirn über verschiedene Routen: entlang von Venen, an Nerven entlang, durch die Hirnhäute und schließlich in Lymphgefäße, die in Halslymphknoten münden. Dort wird der Inhalt vom Immunsystem ausgewertet wie Pakete beim Zoll.
Dieses Zusammenspiel aus Liquorströmung und Gliazellen nennt man glymphatisches System. Ein etwas sperriger Begriff für die Tatsache, dass das Gehirn sehr wohl aufräumt, nur eleganter als dein Geschirrspüler.
😴 Nachtschicht im Oberstübchen – warum Schlaf Hirnhygiene ist
Jetzt kommt der Teil, bei dem alle „Ich komme mit vier Stunden Schlaf super aus“-Menschen nervös werden.
Im Schlaf passiert im Kopf nämlich Folgendes:
- Die Gefäße im Gehirn führen langsame, rhythmische Weitungs- und Engungsbewegungen aus, man nennt das Vasomotion. Das ist wie eine langsame Pumpe, die das Gehirnwasser, der sogenannte Liquor, durch die perivaskulären „Gassen“ drückt.
- Der Zwischenraum zwischen den Zellen wird etwas größer, wodurch die Flüssigkeit leichter fließen kann. Weniger Stau, mehr Durchzug.
- In Experimenten fließen Markerstoffe im Schlaf deutlich schneller durchs Gehirn, Abfallstoffe werden schneller entfernt als im Wachzustand.
Beim Menschen sieht man in modernen Bildgebungsverfahren während des Tiefschlafs riesige Liquorwellen, synchron mit langsamen Hirnaktivitätsmustern. Das ist keine Esoterik, das ist Biophysik.
Übersetzt in Alltagssprache:
Dein Gehirn startet nachts Spülmaschine, Staubsauger und Abflussreiniger gleichzeitig.
Guter Schlaf = professionelle Hirn-Hausreinigung.
Chronischer Schlafmangel = die Müllabfuhr hat seit Wochen nicht mehr geklingelt.
🛂 Gehirn-Zoll – wie das Immunsystem mitliest
Der Müll wird aber nicht einfach ins Nichts entsorgt. Die Abflusswege des Gehirns sind clever in die Immunüberwachung eingebaut.
Auf dem Weg nach draußen passieren die Liquorströme mehrere Kontrollpunkte:
- In den Hirnhäuten sitzen Immunzellen, die Partikel und Eiweißreste direkt aus der abfließenden Flüssigkeit aufnehmen wie Sicherheitskräfte, die Stichproben nehmen.
- In der Dura, der harten Hirnhaut, liegen Lymphgefäße, die die Fracht in Richtung Halslymphknoten leiten.
- In den Lymphknoten wird das Ganze dann immunologisch analysiert: Liegt hier normale Hirnaktivität vor, oder passiert etwas Verdächtiges?
Man kann sich das vorstellen wie einen Kurierdienst, der täglich kleine Proben aus deinem Gehirn bei einem sehr strengen Zoll abliefert.
Ist alles ruhig, wird durchgewunken.
Wirkt etwas falsch, können Immunantworten verstärkt oder verändert werden.
Damit sind Abfallentsorgung und Immunüberwachung keine getrennten Welten, sondern zwei Seiten desselben Systems. Das Gehirn spült nicht nur Müll weg; es sendet gleichzeitig Statusberichte an das Immunsystem. 🧪📦
🧓 Wenn Rohre altern – und warum das für MS interessant ist
Natürlich altern solche Systeme. Leitungen werden starrer, Pumpbewegungen schwächer, Lymphabfluss träger.
Es wird diskutiert, wie Störungen in Hirn-Clearance und Lymphabfluss mit verschiedenen Erkrankungen zusammenhängen könnten:
- Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer sammelt sich Müll im Gehirn; gleichzeitig gibt es Hinweise auf gestörte Flüssigkeitswege.
- Bei Autoimmunprozessen – hier spitze ich als SherlockMS natürlich besonders die Ohren – ist entscheidend, wie Hirneiweiße dem Immunsystem präsentiert werden. Wenn der „Müllstrom“ fehlgeleitet ist, können T- und B-Zellen falsch lernen, wen sie angreifen sollen.
- Auch bei Tumoren, Trauma, möglicherweise psychiatrischen Erkrankungen: Wo Clearance und Überwachung verändert sind, kann sich Pathologie quasi in schlecht beleuchteten Hinterhöfen verstecken.
Für Multiple Sklerose ist die Botschaft klar:
Wer nur auf Läsionen im MRT starrt, übersieht die hydraulische und immunologische Stadtplanung im Hintergrund. Die Frage, wie Hirnmaterial an Lymphknoten und Immunsystem gemeldet wird, könnte mitentscheiden, ob Autoimmunität überhaupt entsteht oder chronisch bleibt.
🧹 Zukunft der Hirn-Hygiene – mehr als nur „Gehirnfit bleiben“
Was folgt daraus? Die Perspektive ist faszinierend:
- Therapien, die den Liquorfluss und die glymphatische Aktivität verbessern etwa über Gefäßdynamik, Atmung, Lagerung, Medikamente.
- Ansätze, die gezielt meningeale Lymphgefäße beeinflussen, um Immunantworten zu modulieren.
- Schlaf nicht mehr nur als Lifestyle-Thema, sondern als echtes neuroprotektives Therapieziel: „Sleep as medicine“, nicht nur „Sleep as nice-to-have“.
Mit anderen Worten: Wir bewegen uns von „Da ist halt eine Läsion“ hin zu „Wie sind Fluss, Müllabfuhr und Grenzkontrolle in diesem Gehirn organisiert… und was können wir daran drehen?“
Ich sitze also weiter in meiner Londoner Wohnung, draußen poltert der echte Müllwagen durch die Straße, und ich muss unweigerlich lächeln.
Die Stadt da unten braucht tonnenschwere Laster, Container, Tonnen und eine halbe Armee in Neonwesten, um ihren Abfall in den Griff zu bekommen.
Dein Gehirn dagegen regelt das mit pulsierenden Gefäßen, cleveren Flüssigkeitswegen, nächtlichen Reinigungswellen und eingebauten Immun-Zollstationen. Wer das nicht beeindruckend findet, darf sich gern weiter über Restmüll und Biotonne streiten.
Ich kümmere mich um die wirklich spannende Frage: Wie halten wir das Oberstübchen sauber… und zwar so, dass Krankheiten wie MS weniger Chancen haben? 🧠✨
SherlockMS
Chief Officer for Brain Hygiene, London




